Archiv Felsberg

Stolpersteine

Julius und Frieda Weinstein und ihre Söhne Max und Alfred

Stolpersteine

von Dr. Marcel Glaser

Die „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig zur Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes sind das erfolgreichste und verbreitetste erinnerungskulturelle Projekt der Gegenwart. Allein die blanken Zahlen unterstreichen diesen Befund. Im Jahr 1992 verlegte Demnig die ersten Stolpersteine. Inzwischen werden die Steine nicht nur deutschland-, sondern auch europaweit platziert. Im  Mai 2023 verlegte Demnig in Nürnberg den hunderttausendsten Stolperstein. Keine andere Gedenkinitiative kann eine ähnliche Erfolgsbilanz vorweisen und hat eine derart große Zahl an Menschen für zivilgesellschaftliches Engagement mobilisiert.

Bei den Stolpersteinen handelt es sich um kleine, viereckige Messingplatten in der Größe eines Pflastersteines. Sie werden in der Regel am letzten bekannten Wohnort der Opfer verlegt, tragen den Namen sowie das Geburts- und Todesdatum des Verfolgten und geben über das weitere Schicksal Auskunft. Die Simplifizierung komplexer Verfolgungsprozesse auf einprägsame Eckdaten der individuellen Opfergeschichte hat ebenso zum Erfolg des Projekts beigetragen wie seine Fähigkeit zur Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements vor Ort. Das Innovative des Konzepts – so der Historiker Harald Schmid – liegt gerade darin, dass es die „alltagsnahe individuelle Vergegenwärtigung von NS-Opfern mit einem breiten gesellschaftlichen Aneignungsmodus“ zu verbinden vermag. (Schmid 2021, S. 67).

In theoretischer Hinsicht schließt das Konzept an die Mitte der 1980er Jahre aufkommende Alltagsgeschichte an, die in Form von Geschichtswerkstätten und Schüler- wie Bürgerinitiativen zu einer ersten Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte vor Ort geführt hatte. Als kritische Auseinandersetzung mit der erinnerungsunwilligen deutschen „Tätergesellschaft“ bewirkten die Stolpersteine vielerorts eine Dekonstruktion lokaler Verdrängungs- und Entlastungsnarrative, was zumindest partiell auch die mitunter erbittert geführten Diskussionen um ihre Verlegung erklärt.

Im Gebiet der Stadt Felsberg wurden bisher 22 Stolpersteine, davon vier im Ortsteil Gensungen, verlegt. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern der Melsunger Radko-Stöckl-Schule sorgte dafür, dass im Juni 2015 nach intensiven Diskussionen in der Felsberger Obergasse die ersten drei Stolpersteine für Isaak und Malchen Kruk sowie ihren Sohn Siegmund eingesetzt wurden. Malchen Kruk wurde am 15. August 1940 in das Lager Wartekuppe in Kassel-Niederzwehren und von dort am 9. Dezember 1941 nach Riga deportiert und ermordet. Ihr Mann Isaak wurde ebenfalls im Lager Wartekuppe interniert. Er starb am 26. Dezember 1940. Das Schicksal von Siegmund Kruk ist unbekannt.

Schülerinnen und Schüler der Felsberger Drei-Burgen-Schule unterstützt von Dr. Dieter Vaupel führten die Initiative fort und erreichten im Mai 2017 die Verlegung von sechs weiteren Stolpersteinen für Emma, Siegward, Ida und Max Weinstein sowie für Hannchen, Rosa und Dieter Adler. Im Mai 2019 folgte die Verlegung von acht weiteren Stolpersteinen für die Mitglieder der Familien Dannenberg und Deutsch. Die bisher letzten vier Stolpersteine wurden am 8. Oktober 2021 für Julius und Frieda Weinstein und ihre Söhne Max und Alfred in der Eppenbergstraße in Gensungen verlegt ( siehe Vaupel 2021).

Literatur:

Apel, Linde: Glänzendes Gedenken. Zur Erfolgsgeschichte der „Stolpersteine“, in: Frank Bajohr, Anselm Doering-Manteuffel, Claudia Kemper, Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 129–143.

Schmid, Harald: Perpetuum mobile der Erinnerungskultur? Die Stolpersteine zwischen Innovation und Inflation, in: Silvija Kavčič, Thomas Schaarschmidt, Anna Warda, Irmgard Zündorf (Hrsg.): Steine des Anstoßes. Die Stolpersteine zwischen Akzeptanz, Transformation und Adaption, Berlin 2021, S. 51–73.

Schrader, Ulrike: Die „Stolpersteine“ oder Von der Leichtigkeit des Gedenkens. Einige kritische Anmerkungen, in: Geschichte im Westen 21 (2006), S. 173–181.

„Sie gedenken der Opfer. Dank Engagement von Schülerinnen  werden in Felsberg die ersten Stolpersteine verlegt“, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine vom 10. Juni 2015.

„Langer Atem war nötig. Erste Stolpersteine in Felsberg nach Diskussionen verlegt – Letzter Stein in Melsungen“, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine vom 17. Juni 2015.

„Hätte uns treffen können. Stolperstein-Verlegung in Felsberg: Schüler gedachten jüdischen Nazi-Opfern“, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine vom 25. Mai 2017.

„Drei schafften es nicht. Stolpersteine sollen an jüdische Felsberger Familien erinnern“, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine vom 3. Mai 2019.

„Sie verloren Haus und Hof. Julius und Frieda Weinstein flüchteten nach Brüssel – Stolpersteine in Gensungen“, in Hessische/Niedersächsische Allgemeine vom 5. Oktober 2021.  

Vaupel, Dieter: Gensungen war ihre Heimat. Stolpersteine zur Erinnerung an Familie Julius und Frieda Weinstein, Berlin 2021.


Dieser Beitrag wurde eingestellt von: Elke Lück
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